Gerne erinnere ich mich an die Geschichten älterer Gemeindemitglieder über die Gründung des Evangelisch-Freikirchlichen Sozialwerks Hannover e. V., die sie mit mir während meiner Zeit als Pastor der EFG Hannover-Walderseestraße geteilt haben. Was ich von ihnen über den Pioniergeist der Gründerväter und -mütter gehört habe, hat mich bewegt, inspiriert und zugleich auch herausgefordert.

In der Gründungsversammlung des Sozialwerks  1948 hieß es: „Der Gedanke an diese Sozialarbeit ist nach dem Kriege stark lebendig geworden. Der materielle Zusammenbruch hatte auch einen religiösen Zusammenbruch im deutschen Volk zur Folge. Die Not unseres Volkes, das hungert und friert, muss auch unsere Not sein. Wir müssen praktisches Christentum üben. Wie Jesus sich der Zeitgenossen annahm, so wollen wir es auch tun und besonders der Jugend, den Armen, Bedrängten, Bedürftigen und Kindern helfen … Es gilt, Leib und Seele zu pflegen … Der Glaube muss in der Liebe tätig sein.“

Auslöser dieser Gründungsaktivität waren die amerikanischen Care Pakete, die in der Nachkriegszeit an die Bedürftigen verteilt wurden. Die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Hannover führte diese Arbeit fort und bündelte schließlich ihre diakonischen Aktivitäten in dem neu gegründeten Werk.

Diese Erinnerungen und der diakonische Herzschlag dieser Arbeit trugen dazu bei, dass ich mich als Mitglied des Aufsichtsrates im Diakoniewerk engagiert habe. Als Pastor habe ich mich nicht nur dem Erbe der Gründer verpflichtet
gefühlt, sondern nahm auch wahr, dass Jesus selbst durch sein „Bodenpersonal“ am Wirken war – und bis heute ist.

Gott selbst ist am Werk

Das Diakoniewerk ist von seinem Wesen her ein Fingerzeig auf den, dem es folgen möchte: Christus. Er ist der eigentliche Diakon. Alle Diakonie ist eine Nachahmung Christi (lat.: Imitatio Christi). Dafür will auch das Diakoniewerk stehen:
Christus nachahmen. Christus ausstrahlen.Christus verkörpern.

Damals wie heute sollen bedürftige Menschen durch den diakonischen Dienst spüren und erfahren, dass Gott sie nicht vergessen hat. Er ist ein Gott, der sich mit ihnen solidarisiert und sich über sie erbarmt – ein Gott, der ihnen ganz nahekommt und ihnen durch einfache Menschen zeigt, dass seine Liebe auch ihnen gilt. Diakonie bedeutet im Kern: Christus in uns begegnet dem Bedürftigen; er erbarmt sich über ihn. Damit betreibt Kirche nicht nur Diakonie; Diakonie ist vielmehr ein Wesensausdruck von Kirche.

Das Diakoniewerk hat über die 75 Jahre hinweg eine beeindruckende Professionalisierung entwickelt – und vor dem Hintergrund vorgegebener Standards auch entwickeln müssen. Doch die innere Substanz und seine Motivation sind dieselbe geblieben: Diakonie ist gelebte Nächstenliebe, die sich an der Liebe Gottes zu den Menschen entzündet. Jesus sagt zu seinen Jüngern: „Seid nun barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). Wer die Barmherzigkeit Gottes erfahren hat, der kann selbst durch den Geist Jesu barmherzig werden. Er wird empfänglich für das Mitleid Gottes. Und als die von Gott Beschenkten und Gesegneten können wir dem Bedürftigen mit barmherzigen Taten dienen: „Wie Gott  mir, so ich dir.“ Der Geist Gottes bewahrt uns als Kirchen davor, dass wir uns selbst genügen. Eine diakonische Kirche ist in diesem Sinne immer eine Kirche, die sich verschenkt und hingibt.

Daher ist Diakonie Sendung Gottes.

Der Geist Gottes führt uns dorthin, wo er den Menschen heilvoll begegnen möchte. Das sind nicht immer unsere Lieblingsorte – aber Orte, an denen Menschen sind, die Jesus liebt. Dort machen wir eine bewegende Erfahrung: In dem  Bedürftigen begegnet uns Christus: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Und genau darin liegt das tiefe Glück der Diakonie: in dem Bedürftigen auch den Christus entdecken. Diakonie ist  vielleicht die schönste Sprache der Welt: eine Sprache, die überall verstanden wird und niemand übersetzen muss.

Diakonie ist ein ergreifendes Geheimnis, mit der Kraft, diese Welt zu verändern. Sie wird zu den entscheidenden Größen der Zukunft Gottes mit dieser Welt gehören. Wir sind berufen, Licht zu sein und uns über diese leidende, notvolle Welt  zu erbarmen in der Kraft Gottes. Wer diese Welt mit einer diakonischen Brille betrachtet, der stellt fest: Allezeit ist Not. Allezeit ist Mangel da. Allezeit ist ein Schrei nach Hilfe und Unterstützung zu hören. Wir kommen zu der Frage, in  welcher Gesellschaft wir leben wollen. Unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in den letzten Jahren wiederholt nach dem Kitt gefragt, der unsere Gesellschaft noch zusammenhält. Ein Kitt ist die Diakonie. Sie ist der Widerspruch,  der Einspruch gegen eine Welt, die sich nimmt, was sie will, und sich darin selbst genügt. Sie ist selbstlos, uneigennützig und sucht das Wohl des anderen – völlig unabhängig davon, wie nahe uns dieser Mensch steht und wie vertraut er uns ist. Diakonische Hände sind Hände der Macht; sie sind Hände der Liebe.

Diakonie ist die Macht der Ohnmächtigen.

Sie sucht nicht Macht, sondern Leben. Sie ist ein Vorgeschmack der Zeit, die uns biblisch verheißen ist. Sie ist ein Appetizer der neuen Welt bzw. der neuen Schöpfung. Sie ist das Herrschaftsinstrument der Ohnmächtigen. Diese haben  den Allmächtigen auf ihrer Seite – Jesus. Und er preist diese Ohnmächtigen in der Bergpredigt glücklich: Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen und diejenigen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. Glücklich zu preisen sind  diejenigen, die Teil des Diakoniewerkes Kirchröder Turm e. V. sind. Jesus hat sie zum Licht gesetzt.

 

BendorfMichael 7493 klMichael Bendorf
Pastor der Friedenskirche Braunschweig

 

 

Bidl: Shutterstock, Maskot Images