Was hat sich nicht alles in den zurückliegenden 75 Jahren verändert? In unserer Gesellschaft, in unserem Wertesystem, und ebenso im Diakoniewerk Kirchröder Turm. In der Geschichte der Diakonie gibt es allerdings einen sich nicht verändernden Dauerauftrag: Sich um Menschen zu kümmern, die auf der Verlierer- statt auf der Siegerseite des Lebens stehen.

 

Bei einem Jubiläum schauen wir zurück und wir schauen nach vorne. Im 19. Jahrhundert weckt Johann Hinrich Wichern die evangelische Kirche Deutschlands mit seinem sozialen Engagement aus dem Schlaf der Selbstgerechtigkeit.
Seine Botschaft ist klar und eindeutig: Taten der Liebe sind wichtiger als schöne Worte. Er ruft die evangelische Kirche auf, sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst zu werden.

Das war ganz im Sinn von Friedrich von Bodelschwingh. Sein Ziel, aus dem Evangelium heraus tätig zu sein, lag in einer ganz schlichten Erkenntnis begründet: „Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt.“ Diese Erkenntnis wird durch praktizierte Nächstenliebe geerdet. Ein Ausspruch des Pioniers der freikirchlichen Diakonie in Deutschland, Eduard Schewe, darf nicht fehlen: „Der Herr sucht in seinem Weinberg keine Redner, sondern Arbeiter.“ Die Kirche und auch unsere Freikirche verdanken diesen Männern und neben ihnen noch vielen Ungenannten im 19. Jahrhundert die Wiederentdeckung ihres diakonischen Auftrags.

„Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Was heißt das in einer säkularisierten Gesellschaft?

Vergangenheit braucht aber auch Zukunft. Auch in der Zukunft steht unser diakonischer Auftrag auf der Grundlage des Evangeliums und dem von Jesus Christus überlieferten „Doppelgebot“ der Liebe: „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Was heißt das in einer säkularisierten Gesellschaft? Kann Diakonie überhaupt noch dieses Proprium setzen? Die Stellung der großen gesellschaftlichen Institutionen, auch der Kirchen, hat sich verändert. Integrative Kraft geht von ihnen kaum noch aus.

Wer gibt ethische Orientierung für die Gesellschaft?

IMG 0519 RZ klIm Diakoniewerk Kirchröder Turm ist das Doppelgebot Jesu nicht nur theologische Fachsimpelei, sondern gelebter Glaube. „Lehrlingsheim Kirchröder Turm“ hieß das wunderschöne denkmalgeschützte Haus an der Kirchröderstraße, als ich in den Jahren 1958 und 1959 dort regelmäßig Mittagsgast war. Bei den Mahlzeiten – oft gemeinsam mit Fridegard und Egon Maschke – wusste ich immer, was die dort wohnenden Lehrlinge am Vorabend auf ihrem Tisch – teilweise aus Amerikaspenden – vorgefunden hatten. Aufgewärmte Reste schmecken bekanntlich besonders gut.

Was ist alles aus dem Samenkorn in der Nachkriegszeit als Frucht gereift und gewachsen? Dafür haben wir genügend Anschauungsunterricht an verschiedenen Standorten und auf unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Und was können wir daraus für die Zukunft lernen?

Neubauten, Umbauten, Erweiterungsbauten standen regelmäßig auf der Agenda bis heute. Immobilien waren aber nicht Selbstzweck, sondern immer Ausdruck für geistliche Mobilität und notwendige Voraussetzungen für neue Felder praktizierter Nächstenliebe. Die klassischen Tugenden von Glaube, Liebe, Hoffnung warten auf immer neue Herausforderungen. Möge die Liebe immer die größte unter ihnen sein. Ich kenne Einrichtungen, die auch Glaube, Liebe und Hoffnung als Motto bejahen, aber dann daraus folgern „der status quo ist der größte unter ihnen“. Für das Diakoniewerk wünsche ich, dass „status quo“ ein Fremdwort ist. Es reicht nicht, Bestehendes zu verwalten. Neues ist zu gestalten.

Vernetzt mit den Ortsgemeinden

Das Diakoniewerk ist zwar ein eigenständiges Werk, doch strukturell und personell vernetzt mit den Ortsgemeinden. Diakonie ist seit biblischen Zeiten Lebensäußerung der Gemeinde Jesu Christi. Dass dieses theologische Verständnis auch in Zukunft die Basis für die Ausrichtung der Arbeit ist, wünsche ich aus Überzeugung. In jedem Diakoniewerk ist die Praxis der Nächstenliebe und damit verbunden die Notwendigkeit diakonischen Handelns mit Wirtschaftlichkeit und einem tragfähigen finanziellen Fundament verbunden. Auch im Kirchröder Turm.

Dienste in Israel 1975 klAls ich Pastor in Hannover war, lebten unsere Gemeindemitglieder Fridegard und Egon Maschke ihre Berufung, einen Beitrag zur Versöhnung mit Israel zu leisten. Ihre Begeisterung fand in unserer Gemeinde ein Echo. Jugendgruppen, Jugendchöre und Orchester aus Israel wurden nach Hannover eingeladen. Junge Leute aus unseren Gemeinden fuhren zu Kibbuzeinsätzen nach Israel. Dafür gab es kein festes Budget. Im Vertrauen auf Gottes Fürsorge wurde geplant und gehandelt. Daraus entwickelte sich der heute nicht mehr wegzudenkende Arbeitszweig DIENSTE IN ISRAEL.

Das gilt auch für einen inzwischen delegierten anderen Arbeitszweig. Als Generalsekretär unserer Freikirche war ich dankbar, dass das Diakoniewerk in Hannover mit „pro vita“ eine Lebensrechtsbewegung unter ihrem Dach betreute, die in unserer Bundesgemeinschaft nur im begrenzten Umfang ein Zuhause hatte. „Tu deinen Mund auf für die Stummen, für die Sache aller, die verlassen sind!“ (Sprüche 31,8). Das ist für mich aus Überzeugung Diakonie pur.

Maß aller Dinge: Gottes Beauftragung

Mich verbindet mit dem Diakoniewerk, dass bei notwendigen geistlichen Herausforderungen nicht Wirtschaftlichkeit das Maß aller Dinge ist, sondern die Frage nach Gottes Beauftragungen. Möge das auch in Zukunft so bleiben.

Der Gesamtauftrag der Kirche heißt Diakonie der Versöhnung (2.Kor. 5,18). Deshalb kann auch die Diakonie der helfenden Hände niemals ohne das Wort der Versöhnung sein. Der Berliner Theologe Peter C. Bloth hat das so ausgedrückt: „Das Missionarische nimmt der Diakonie die Verwechselbarkeit. Das Diakonische gibt der Mission die Leibhaftigkeit.“ Das Ziel der Diakonie ist dort erreicht, wo Menschen begleitet werden zum Leben mit Gott. „Wir können Gott aber nur mit dem dienen, was er selber in uns schafft.“ So Bodelschwingh in derRückschau auf sein Leben.

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Pastor i.R. Eckart Schaefer
Langjähriger Begleiter des Diakoniewerkes Kirchröder Turm e.V.