Der Baptist Johann Gerhard Oncken war mit der Sonntagsschularbeit, die er in Hamburg zusammen mit dem lutherischen Pastor der Dreieinigkeitskirche in St. Georg in Hamburg aufbaute, ein entscheidender Impulsgeber für Johann Hinrich Wichern und sein diakonisches Wirken. Ohne Oncken und die von ihm aus England mitgebrachte Sonntagsschule hätte es vielleicht die berühmte Rede Wicherns 1848 auf dem Kirchentag in Wittenberg gar nicht gegeben, die als Startschuss für die moderne Diakonie gilt.

In der Zeit als Oberlehrer in der Sonntagsschule in Hamburg lernte Wichern die furchtbare soziale Not in Hamburg kennen. Regelmäßig besuchte er die Familien im Stadtteil. Seine Besuchsprotokolle sind für mich bis heute ein bewegendes Dokument eines leidenschaftlichen Seelsorgers und geben Zeugnis von den schwierigen Verhältnissen, in denen die Kinder und ihre Familien lebten. Zugleich erlebte Wichern in der Sonntagsschularbeit, dass die Einsatzbereitschaft aus dem Glauben zusammen mit praktischer Nächstenliebe einen Unterschied im Leben von Menschen machen kann.

Geprägt von einer tiefen Frömmigkeit und ausgestattet mit einem durch die Arbeit in der Sonntagsschule geschärften Blick für die Armut hielt Johann Hinrich Wichern auf dem Kirchentag in Wittenberg eine aufrüttelnde Rede. Mit seinem zentralen Satz „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“ rief er die evangelische Kirche auf, sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst zu werden. Wichern legte damit die Finger in die Wunde und hielt der Kirche den Spiegel vors Gesicht: Wer Nächstenliebe predigt, der sollte auch danach handeln.

Es waren eigentlich keine Zeiten, um sich gemütlich als Kirche zurückzuziehen. 1848 war ein Jahr des Umbruchs im damaligen Deutschen Reich. Die Kriegsangst wuchs. Es war unruhig auf den Straßen. Die desolate soziale Not in Deutschland wurde größer. Immer mehr Menschen hatten existentielle Sorgen. Die Verstädterung und das rasante Bevölkerungswachstum sorgten für weitere soziale und gesellschaftliche Veränderungen. Die Armut breitete sich aus, die Lebensbedingungen verschlechterten sich.

Hundert Jahre später – 1948. Hannover ist weitgehend zerstört. Der Schrecken und die Verwüstungen des Krieges sind überall sichtbar – die Armut und die Not der Überlebenden allgegenwärtig. Wieder lassen sich Christ*innen von der Not der Menschen anrühren. Die baptistische Gemeinde in Hannover gründet ein Diakoniewerk. So soll es sein: eine konkrete Not wahrnehmen, sich anrühren lassen – und dann handeln. Mein Respekt und mein Dank gelten denen, die sich damals bewegen ließen und viel bewegt haben.

Auch heute leben wir in einer Zeit des Umbruchs. Digitalisierung, Klimawandel, Krieg in Europa. Die Folgen sind steigende Armut, Inflation, Zukunftssorgen und bei manchen auch das Gefühl, nicht gehört zu werden. Die Reaktionen auf die Veränderungen sind unterschiedlich: Die einen ziehen sich zurück und werden leise. Die anderen protestieren laut und überschreiten dabei teilweise auch Grenzen. Genau wie vor 175 Jahren und vor 75 Jahren brauchen wir auf diese Herausforderungen Antworten.

Wenn biblische Botschaft wach gehört und mit dem Leben ins Gespräch gebracht wird, werden und sind Kirchengemeinden auch heute Orte, an denen diese Fragestellungen diskutiert und Antworten versucht werden. Das ist in den Gemeinden der Landeskirche nicht anders als in den baptistischen Gemeinden: Aus der Gemeindeschwester mit dem Fahrrad
haben sich ambulante Pflegestationen entwickelt. Aus ersten Angeboten im Rahmen der sozialen Beratung sind komplexe Angebote mit Spezialisierungen geworden wie die Beratungsstelle für Lebens- und Beziehungsfragen am Kirchröder Turm. Ob in der Flüchtlingshilfe, in Kooperationsprojekten mit der örtlichen Tafel, Besuchsdiensten, Familienzentren oder der Jugendarbeit: Kirchengemeinden können Orte kreativer Lösungen sein. Und im Netzwerk der Gemeinden lässt sich Wissen gut teilen. Bei einer erfolgreichen Projektumsetzung verstetigen sich diese und finden über die Gemeindegrenzen hinaus Nachahmer. Das war schon so bei Oncken und der Sonntagsschularbeit in Hamburg, die von Anfang an ein ökumenisches Projekt war. Diese Graswurzelbewegung funktioniert weiterhin und verbindet die Menschen in unserer Gesellschaft, die die Interessen des Nachbarn mitdenken und sich füreinander einsetzen.

Care-Pakete1952Die orts- und kirchennahe Diakonie bleibt wichtig für die Identität von Diakonie. In dieser Gemeinschaft wird sichtbar, dass Diakonie der soziale Dienst der Kirche ist. Das gilt für die Kirchengemeinden des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) genauso wie für die Gemeinden der Landeskirche. Dieser Verbund aus gelebter Gemeindediakonie und den vielfältigen professionellen diakonischen Hilfssystemen macht die Diakonie zum größten Wohlfahrtsverband. Die gelebte Nächstenliebe ist ein zentraler Grundpfeiler unseres Sozialstaates. Als Diakoniewerk Kirchröder Turm e.V. haben Sie in der Stadt und der Region Hannover Anteil daran. Ich danke Ihnen für Ihren langen Atem in der Zuwendung zum Nächsten, für Ihr Engagement und für Ihre konkrete Arbeit.

Mir gefällt ein Satz von Wichern ganz besonders: „Nur der kann sich der Not in ihrer ganzen Breite entgegenstellen, der den Mut zur ersten kleinen Tat hat.“ Das lässt sich von den Gründungsvätern und -müttern lernen: einfach machen! Ausprobieren, keine Angst vor dem Scheitern haben. Ideen weiterentwickeln, anpassen, zur Lösung eines konkreten Problems werden lassen.

Care-Pakete1954Mich persönlich haben Diakonissen in der Kaiserswerther Tradition geprägt. In der Leitung des Diakoniewerks Schwäbisch Hall habe ich diese kennen und schätzen gelernt. Ihre schlichte Frömmigkeit fasziniert mich immer wieder. „Wir tun das – weil der Herr Jesus uns das aufgetragen hat.“ Über die Jahrzehnte bleibt bei allen Veränderungen dieser Auftrag, der nach konkreter Umsetzung an konkretem Ort verlangt.

Diese Bereitschaft zum Handeln, die gegründet ist im Glauben an Jesus Christus, wünsche ich uns allen.

 

Hans Joachim Lenke Hochformat RZ klHans-Joachim Lenke
Vorstandssprecher Diakonisches Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen e. V. Hannover
diakonie-in-niedersachsen.de

 

 

 

 

https://picryl.com/de/media/theodor-hosemann-armut-im-vormarz-1840-e1eaffBundesarchiv, Bild 194-0914-11A / Lachmann, Hans / CC-BY-SA 3.0
Bundesarchiv, Bild 194-0914-04A / Lachmann, Hans / CC-BY-SA 3.0