Bildung als Kern diakonischen Handelns
Bildungsarbeit gehört zu den Grundfesten diakonischer Praxis. Sie ist ein grundlegender Ausdruck christlichen Glaubens und prägt die Diakonie ihrerseits auf tiefgreifende Weise.
Beispielhaft zeigt sich in der Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine eindrücklich, wie Glaube, Bildung und Diakonie miteinander verwoben sind. Bereits zwei Jahre nach Gründung des Ortes Herrnhut durch Glaubensflüchtlinge aus Böhmen und Mähren wurde im Jahr 1724 die erste Schule eröffnet. Bildung und Erziehung war von Beginn der Besiedlung ein wichtiger Bestandteil des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und Ausdruck der diakonischen Grundausrichtung des religiösen Gemeinwesens. Bildung wurde dabei stets nicht nur als Wissensvermittlung verstanden, sondern auch als Weg zur Entfaltung der Persönlichkeit im christlichen Sinn. Hierbei wurde Johann Amos Comenius, der als Pädagoge, Theologe und Universalgelehrter im 17. Jahrhundert wirkte, zu einem wichtigen Impulsgeber. Er war der letzte Bischof der „alten“ Unität der Böhmischen Brüder, deren Nachkommen sich in Herrnhut ansiedelten.
Comenius’ Idee, Bildung als ganzheitlichen Prozess zu verstehen, bei dem alle Sinne und die gesamte Persönlichkeit des Menschen angesprochen werden, prägt bis heute die diakonische Bildungsarbeit. Bildung wird dabei nicht nur als intellektuelle Herausforderung, sondern als Form der seelischen, sozialen und spirituellen Entfaltung verstanden.
Diakonische Bildung als besondere Form von Bildung
Diakonische Bildung umfasst zwei wesentliche Dimensionen, die sich gegenseitig ergänzen und vertiefen.
Erstens ist Bildungsarbeit an sich als eine Form diakonischer Arbeit zu verstehen. Bildung ist in der Diakonie ein zentraler Bestandteil des helfenden Handelns am Mitmenschen. In diakonischen Einrichtungen wird nicht nur Wissen weitergegeben, sondern es werden Menschen begleitet, ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu entfalten. In den Einrichtungen der Herrnhuter Diakonie, beispielsweise in der nach ihm benannten Förderschule, spiegeln sich die Grundsätze der Pädagogik von Johann Amos Comenius wider. Er betonte, dass Bildung für alle zugänglich sein muss, unabhängig von den jeweiligen Voraussetzungen. Sein Prinzip „Omnes omnia omnino“ – „Alle alles allumfassend lehren“ – steht sinnbildlich für das inklusive und ganzheitliche Bildungsverständnis, das uns auch heute noch leitet.
Zweitens gibt es die Dimension der diakonischen Bildung als besondere Form des Lernens. In der diakonischen Bildung geht es nicht nur um das Erlernen von Fakten, sondern um ein Lernen, das die Entwicklung des gesamten Menschen im Blick hat. Dies bedeutet, auf andere zu achten, soziale Ungerechtigkeiten zu erkennen und mit „diakonischen Augen“ durch die Welt zu gehen. Diakonische Bildung greift hier auf das Modell des „Ansehen – Deuten – Handeln“ (Walter Boes) zurück, das vom biblischen Gleichnis des barmherzigen Samariters inspiriert ist. Dieses Modell betont, dass Bildung nicht nur Wissen, sondern auch Wahrnehmung und Mitgefühl entwickeln muss. Der diakonische Bildungsansatz folgt damit Comenius’ Idee, dass Bildung sowohl im Kopf als auch im Herzen verankert sein muss.
Diakonie als Hilfe zur Selbsthilfe
Diakonische Bildung ist auch ein Mittel der Emanzipation. Menschen, die von diakonischen Einrichtungen begleitet werden, sollen nicht nur betreut, sondern zu selbstständigen, verantwortungsvollen Individuen werden. Dies entspricht dem christlichen Auftrag der Nächstenliebe: anderen zu helfen, sich selbst zu helfen. Gleichzeitig hat diese Form der Bildung etwas Reziprokes: Helfen und Hilfe empfangen, bilden und gebildet werden kann ein wechselseitiges Verhältnis sein. Diakonische Bildung geschieht somit auch, wo Mitarbeitende durch ihre diakonische Tätigkeit selbst lernen und wachsen, ja selbst Hilfe annehmen und Selbsthilfe lernen. Meiner Meinung nach kann das ein großer Mehrwert für diakonische Arbeit sein: Wer selbst Hilfe zulassen kann, kann besser helfen. Theologisch gesehen ist es Gottes Zuwendung zum Menschen, die unseren diakonischen Bemühungen vorausgeht. Wenn ich diese für mich annehme, kann ich mich anderen zuwenden.
Fazit: Diakonische Bildung eröffnet Perspektiven
Bildung als diakonische Aufgabe bedeutet, Perspektiven zu eröffnen – sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Sie hilft den Einzelnen, ihre Fähigkeiten zu entfalten, und trägt zur sozialen Gerechtigkeit bei, indem sie Menschen befähigt, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Diakonische Bildung bleibt auch heute ein zentraler Bestandteil des diakonischen Auftrags, dem Leben Perspektive zu geben. In einer Welt, die zunehmend komplex und herausfordernd wird, bietet diakonische Bildung einen Raum, in dem Menschen lernen, das Leben in seiner ganzen Fülle zu begreifen und Verantwortung in der Gemeinschaft zu übernehmen.
David Heukeroth
ist Theologischer Vorstand der Stiftung Herrnhuter Diakonie
Bild: Porträt von 1650 vom niederländischen Maler Jürgen Ovens, Amsterdam Rijksmuseum, Foto: Carola van Wijk