Die Grundfesten der Menschlichkeit:
Mit Diakonie am Kern der biblischen Botschaft
Diakonie, das ist ein Arbeitszweig der Kirche. Diakonie, das ist ein großer sozialer Dienstleister, einer neben vielen anderen? Helfende Berufe, die gibt es auch, neben den vielen anderen? Hilfsbereite Menschen, das sind die, die eine besonders große Prise sozialer Kompetenz in sich tragen?
Was, wenn wir das Bild neu zeichnen und die eben beschriebenen scheinbaren Nebenschauplätze des Lebens zu entscheidenden Fundamenten machen, um darauf Kirche, gelingende Gemeinschaft und Gesellschaft zu bauen!? Eine Motivation aus einem Psalm: »Schafft Recht für die Geringen und Waisen, Gerechtigkeit für die Armen und Bedürftigen! Befreit die Geringen und Wehrlosen, entreißt sie der Gewalt ihrer Unterdrücker!« aus Psalm 82
Der 82. Psalm ist vielleicht gar nicht so sehr bekannt. Möglicherweise ist er sogar weniger bekannt, als er sein sollte. Es lohnt sich, ihn vorweg einmal zu lesen.
Man stelle sich das einmal vor: Eine Versammlung steht an. Alle Götter kommen zusammen. Der Heilige, der Einzige kommt auch. Er wird zu ihnen sprechen. „Ich habe euch etwas zu sagen!“, das hatte er schon angekündigt. Die Spannung steigt! Was hat der eine Gott der himmlischen Versammlung zu sagen!? Da gäbe es doch eine ganze Reihe an Punkten, die gerade zu klären sind! Und dann kommt ein Gedanke mit zwei Aufforderungen: Schafft Recht und befreit! Es geht in Gottes Forderungen an die Menge aller Mächtigen nur um eins: Gerechtigkeit.
In der antiken Welt war die Verbindung zwischen Recht und Göttern völlig selbstverständlich. Die Menschen hatten ihre Rechte von ihrem Herrscher, meist einem König. Er bestimmte, was erlaubt war und was nicht. Diese Macht, über Gesetze und Recht zu bestimmen, hat der König verliehen bekommen. Er hat sie erhalten von seinem Gott. Hatte ein Mensch also Rechte, bekam er sie allein durch den König gewährt, dieser bekam sie von seinem Gott. Daher ist Ungerechtigkeit ein
Thema für Herrscher und Mächtige. Sie hatten die Mittel, Unrecht zu unterbinden und wieder für Gerechtigkeit zu sorgen.
Zurück zur Anfangsszene: Gott spricht zu den Mächtigen der Welt. An seiner Stimmung lässt sich nicht zweifeln. Er ist sauer. „Wie lange denn noch?“, schallt es durch die Versammlung. Die Stimmung kocht. Man kann die Luft schier knistern hören. Es geht nicht um etwas Einmaliges, um einen zufälligen Fehler! Ungerechtigkeit passiert immer wieder. Schon lange. Da ist Ärger angebracht. Ärger von Gott.
Und wie reagiert die Menge der Mächtigen? Vermutlich hört man nichts. Es herrscht betretenes Schweigen. Sie verstehen es nicht. Sie tappen im Dunkeln. Sie sollen die Belasteten befreien? Sich für Wehrlose einsetzen? Die niedergeschlagenen aufrichten? Die Geringsten aufbauen? Wie soll das gehen? Sonst sind die Mächtigen doch für die Eliten da! Die, die Zeit für sie haben. Die Reichen, die bei denen man Gewinn machen kann. Die Einflussreichen, die ihnen etwas zurückgeben können. Die Szenerie bleibt zum Zerreißen angespannt. Es geht hier nicht um ein unwichtiges Nebenthema. Es geht wortwörtlich um die Fundamente der Welt. Wenn Ungerechtigkeit herrscht, dann wanken die Fundamente der Erde. Wenn die Mächtigen den Menschen, die es nötig haben, nicht zum Recht verhelfen, dann bebt die Erde. Und so wird den Mächtigen ihr Untergang vorhergesagt. Ihre Göttlichkeit ist dahin. Sie fallen. Sie sind nicht mehr als ein gewöhnlicher Fürst.
Ist das eine Dystopie? Eine dunkel ausgemalte Vision, wie die Welt vor die Hunde geht? Nun, es ist ein Psalm. Am Ende ist es – nahezu überraschend – ein Gebet! „Schaffe mir Recht! Schaffe Recht den Völkern auf der Erde!“, ruft der Beter.
Dieser Ruf fasst das eine zentrale Thema des ersten Testaments der Bibel zusammen: Gerechtigkeit! Sie muss eingefordert werden. Sie muss zwischen Menschen und Mächtigen geschaffen werden. Es muss also zwischen den Menschen und den Mächtigen etwas ausgehandelt werden. Gerechtigkeit muss – immer wieder neu – geschaffen werden. Gerechtigkeit ist kein Stadium, welches ein einzelner Mensch irgendwie erreichen kann. Entscheidende
– seien es Gott, Könige oder Mächtige
– können sich für die Menschen einsetzen.
Sie können sich mit ihnen und vor allem mit den Notleidenden verbinden. Aus dieser Verbundenheit wächst Gerechtigkeit.
Tag für Tag wenden wir uns Menschen zu, sei es in den diakonischen Einrichtungen, in Kirchgemeinden oder in anderen Gemeinschaften. Diese Zuwendung bekommt im Licht dieses Psalms eine besondere Bedeutung.
Menschen in Not sind eben keine Randgruppen der Gesellschaft. Da wo Halt gegeben, einander geholfen oder über Grenzen des Lebens gemeinsam gegangen wird, da passiert so viel mehr. Beim diakonischen Arbeiten oder beim Helfen von Menschen in Not – da berühren wir etwas Fundamentales. Da liegen die Grundfesten der Menschlichkeit. Da wo Geringen geholfen wird, da wo Hilfebedürftige Halt finden, da wo Sprachlose eine Stimme bekommen – da sind wir an einem Kern der biblischen Botschaft und an einem Kern, welcher die Kraft hat, eine zerrissene Welt und ihre Bewohner weiter zusammenzuhalten.
Tilo Schmidt
Pastor im Diakoniewerk und Koordinator Service-Wohnen auf dem Campus des Diakoniezentrums Springe
T. 0 50 41. 77 85 63
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